|
|
Der Verschollene

Die Brücke, die New York mit Brooklyn verbindet, hing zart über den East River, und sie erzitterte, wenn man die Augen klein machte. Sie schien ganz ohne Verkehr zu sein, und unter ihr spannte sich das unbelebte, glatte Wasserband. [...] In der unsichtbaren Tiefe der Straßen ging wahrscheinlich das Leben dort nach seiner Art, aber über ihnen war nichts zu sehen als leichter Dunst1.

Mockup Schule

Entdecke über 50 Millionen kostenlose Lernmaterialien in unserer App.

Der Verschollene

Illustration

Lerne mit deinen Freunden und bleibe auf dem richtigen Kurs mit deinen persönlichen Lernstatistiken

Jetzt kostenlos anmelden

Nie wieder prokastinieren mit unseren Lernerinnerungen.

Jetzt kostenlos anmelden
Illustration

Die Brücke, die New York mit Brooklyn verbindet, hing zart über den East River, und sie erzitterte, wenn man die Augen klein machte. Sie schien ganz ohne Verkehr zu sein, und unter ihr spannte sich das unbelebte, glatte Wasserband. [...] In der unsichtbaren Tiefe der Straßen ging wahrscheinlich das Leben dort nach seiner Art, aber über ihnen war nichts zu sehen als leichter Dunst1.

Dieses Zitat geht aus dem unvollendeten Roman "Der Verschollene" von Franz Kafka (1883–1924) hervor. Der Schriftsteller verfasste das Werk bereits zwischen 1911 und 1914, publiziert wurde es jedoch erst postum im Jahr 1927 von Max Brod, einem engen Freund Kafkas.

Das Adjektiv "postum" bezieht sich auf den (oftmals künstlerischen) Nachlass einer Person, z. B. einer Autorin oder eines Autors und meint so viel wie nach dem Tode erfolgend.

Das Werk "Der Verschollene" wurde in früheren Ausgaben unter dem Titel "Amerika" veröffentlicht. Dies deckt sich mit dem thematischen Schwerpunkt des Romans, denn es geht um den aus Prag stammenden Karl Roßmann, der von seinen Eltern in das weit entfernt liegende Amerika verbannt wird. Dort führt der junge Mann ein ärmliches Leben und sieht sich mit einem schweren Schicksal konfrontiert.

Franz Kafka "Der Verschollene" – Zusammenfassung und Inhaltsangabe

Im Folgenden findest Du die Inhaltsangabe von "Der Verschollene" in verschiedene Abschnitte untergliedert, die Dir bei der Orientierung helfen sollen und nicht den tatsächlichen Kapiteln entsprechen. Den genauen Aufbau findest Du unter dem Kapitel "Aufbau und Sprache".

Der Roman "Der Verschollene" beginnt mit dem sechzehn Jahre alten Karl Roßmann, der von seinen Eltern nach Amerika verbannt wird. Grund hierfür ist das flegelhafte Verhalten des Jungen: Er ließ sich von dem Dienstmädchen Johanna Brummer verführen und hat auf diese Weise ein Kind mit dem Mädchen gezeugt.

Es ist nicht eindeutig geklärt, ob Karl Roßmann 16 oder 17 Jahre alt ist, da in Kafkas Roman keine genauen Angaben gemacht werden.

Die Ankunft in New York

Karl ist mit dem Schiff nach New York unterwegs. Dort trifft er bei Ankunft im Hafen von New York auf seinen Onkel Edward Jakob, der bereits viele Jahre zuvor in die USA emigrierte. Der Onkel wurde von Johanna über die Ankunft von Karl informiert und nimmt den Jungen herzlich bei sich auf. Dies stellt einen glücklichen Zufall für Karl dar, denn sein Onkel ist Geschäftsmann und verfügt infolgedessen über viel Geld.

Edward nimmt den Neuankömmling sogar mit in sein Kommissions- und Speditionsgeschäft"1 und erzählt ihm, dass er dieses vor dreißig Jahren aus eigener Kraft aufgezogen habe. Die Hauptaufgabe dieses Geschäfts besteht in "einem Zwischenhandel"1. Dieser Handel konzentriert sich darauf, "Waren und Urprodukte für die großen Fabrikskartelle1" zu besorgen. Karl ist begeistert von seinem Onkel und dessen Geschäftssinn.

Karls ärmliches Leben

Einige Zeit später gelangt die Beziehung von Karl und Edward jedoch zu einem Wendepunkt. Karl nimmt die Einladung in das Landhaus eines Geschäftsfreundes seines Onkels gegen dessen Willen an. Ohne Vorwarnung wird der junge Mann von seinem Onkel auf die Straße gesetzt.

Karl ist nun mittellos und begibt sich in seiner Not in eine Herberge. Dort lernt er die beiden Landstreicher Robinson und Delamarche kennen, denen er sich anschließt. In einer Kleinstadt unweit von New York wollen sich die beiden eine Arbeit suchen. Was Karl jedoch nicht ahnt ist, dass Robinson und Delamarche ihn bestehlen wollen. Während der auf die Straße gesetzte Junge auf der Suche nach Lebensmitteln ist, durchsuchen die beiden Landstreicher sein Hab und Gut.

Die Anstellung im Hotel Occidental

Nachdem Karl von der Absicht der beiden erfährt, trennt er sich von ihnen und findet kurzzeitig Unterschlupf in dem Hotel Occidental. Dort erhält der Junge einen Job als Liftboy und scheint trotz der langen und anstrengenden Tage zufrieden mit seiner neuen Arbeit.

Die englische Bezeichnung "Liftboy" bezieht sich auf die Tätigkeit eines Aufzugführers. Dies ist ein Dienstleister, der für Hotelgäste den Aufzug bedient und darüber hinaus beratende Fähigkeiten hat. Auch wenn der Aufzugführer aufgrund des technischen Fortschritts heute nur noch selten eingesetzt wird, ist er eine typische Figur in Romanen oder Filmen.

Als plötzlich der Landstreicher Robinson im Hotel auftaucht, gerät Karl erneut in eine ungünstige Lage: Robinson drängt Karl im betrunkenen Zustand dazu, ihm zu folgen. Weil Robinson aber zusammenbricht, bringt Karl diesen in seinen Schlafsaal. Er lässt in dieser Zeit seine Arbeit unbeaufsichtigt und muss später die Konsequenzen dafür tragen – er erhält die Kündigung. Dabei ist es insbesondere der Oberportier, der Karl mit starker Eindringlichkeit wegen seines angeblich unhöflichen Verhaltens schikaniert.

Karl als unfreiwilliger Diener

Weil der junge Mann nun ohne Perspektive dasteht und nach einer körperlichen Auseinandersetzung mit dem Oberportier kein weiteres Aufsehen erregen möchte, steigt er gemeinsam mit Robinson in ein Taxi. Nach der Ankunft wird der Junge von einem Polizisten verfolgt, weil er den Taxifahrer nicht bezahlen kann. Sich erneut in einer Notsituation befindend, flieht Karl in die Wohnung von Robinson, wo er auch wieder auf Delamarche trifft und die Mitbewohnerin der beiden kennenlernt. Diese ist Sängerin und trägt den Namen Brunelda. Karl erfährt, dass sie zugleich die Geliebte von Delamarche ist und dass die beiden Robinson als deren Diener angestellt hatten.

Gegen seinen Willen wird Karl als Diener der drei angestellt. Zunächst bittet er Brunelda gehen zu dürfen. Diese verwehrt es ihm ohne erkennbaren Grund. Als Karl schließlich fliehen will, bemerkt er, dass die Tür zum Treppenhaus verschlossen ist. Nachdem die drei den Fluchtversuch ihres unfreiwilligen Dieners bemerken, verprügeln sie ihn. Nach diesen Geschehnissen unterhält sich Karl mit einem Studenten, der im selben Haus wohnt. Daraufhin entschließt er sich dazu, sein Schicksal zu akzeptieren.

Das Naturtheater in Oklahoma

Zuletzt erblickt Karl ein Plakat, auf dem das Naturtheater in Oklahoma für Personal wirbt. Hierin sieht der junge Mann die Chance, sein bezwungen geglaubtes Schicksal zu ändern.

Karl schöpft Hoffnung auf eine bessere Zukunft und bewirbt sich in Clayton als Mitarbeiter des Theaters. Angestellt wird er schließlich als technischer Arbeiter. In Clayton gibt es ein Festessen, bei dem den neuen Mitarbeitenden Bilder des Naturtheaters gezeigt werden. Daraufhin treten sie die Reise nach Oklahoma an. In dieser Episode wird Karl bewusst, wie groß Amerika tatsächlich ist. An dieser Stelle endet das Romanfragment.

"Der Verschollene" – Hauptfiguren

In dem Roman "Der Verschollene" erhalten die Lesenden nur eingeschränkt Informationen über die Charaktere. Im Folgenden erhältst Du eine Übersicht über die Hauptfiguren des Romans.

Karl Roßmann

  • ist sechzehn Jahre alt
  • ist "ein starker Junge"1
  • wird von seinen Eltern aus der heimatlichen Stadt Prag verbannt
  • wird nach Amerika geschickt
  • führt dort ein ärmliches und schwieriges Leben

Edward Jakob

  • ist mütterlicherseits der Onkel von Karl
  • ist Geschäftsmann
  • verfügt über viel Geld
  • nimmt Karl herzlich bei sich auf
  • ist verärgert über Karls ungefragte Annahme der Einladung eines Geschäftsfreundes
  • setzt Karl daraufhin auf die Straße

Johanna Brummer

  • ist der Auslöser für Karls Verbannung nach Amerika
  • ist Dienstmädchen bei Karl's Familie
  • ist laut dem Onkel etwa 35 Jahre alt
  • verführt Karl gegen seinen Willen
  • bittet den Onkel von Karl postalisch, sich in Amerika um ihn zu kümmern
  • bekommt ein Kind von Karl

Delamarche und Robinson

  • sind Landstreicher
  • gaukeln Karl Freundschaft vor
  • nutzen ihn jedoch aus
  • bestehlen Karl
  • zwingen ihn, als Diener bei ihnen zu arbeiten

"Der Verschollene" – Analyse

Die Geschehnisse in "Der Verschollene" werden von einem personalen Erzähler wiedergegeben. Im Folgenden erhältst Du Informationen über den Aufbau von "Der Verschollene" als Roman und erfährst Genaueres zur Sprache.

Der personale Erzähler erlebt und erzählt die Handlung aus der Sicht einer in der Geschichte vorkommenden Figur. Meist ist das die Hauptfigur. Dazu nutzt er die Personalpronomen der 3. Person Singular, weswegen die Perspektive auch unter Er-/Sie-Erzähler bekannt ist. Sieh Dir doch die Erklärung "Erzähler" auf StudySmarter an, wenn Du mehr über den personalen Erzähler erfahren möchtest!

Aufbau

Das von Max Brod herausgegebene Romanfragment "Der Verschollene" hat insgesamt acht Kapitel, wobei in anderen Ausgaben, die Fragmente "'Auf! Auf!' Robinson" und "Ausreise Bruneldas" aufgeführt werden. Es ergibt sich deshalb folgende Aufteilung:

  • Kapitel 1: Der Heizer
  • Kapitel 2: Der Onkel
  • Kapitel 3: Ein Landhaus bei New York
  • Kapitel 4: Weg nach Ramses
  • Kapitel 5: Hotel Occidental
  • Kapitel 6: Der Fall Robinson
  • Kapitel 7: Ein Asyl
  • Kapitel 8: Das Naturtheater von Oklahoma
  • Fragment: 'Auf! Auf!' Robinson
  • Fragment: Ausreise Bruneldas

Sprache

Der Sprachstil in "Der Verschollene" gleicht einer sachlichen Beobachtung. Dies ist ein typisches Merkmal von Kafkas Schreibstil, dessen Beschreibungen häufig an juristische Texte erinnern.

Dies kannst Du anhand der Textpassage erkennen, in der Karl mit seinem Onkel Edward aufbricht, um mit zwei Geschäftsfreunden essen zu gehen:

Eines Tages kam der Onkel knapp vor der Zeit des Essens, das Karl wie gewöhnlich allein einzunehmen gedachte, und forderte ihn auf, sich gleich schwarz anzuziehen und mit ihm zum Essen zu kommen, an welchem zwei Geschäftsfreunde teilnehmen würden.1

Des Weiteren fällt auf, dass in Form von eingeschobenen Sätzen das Geschehen in allumfassender Weise wiedergegeben wird. Allumfassend meint hier, dass sowohl der Moment erzähltechnisch geschildert, als auch vorangegangene Momente in einem Satz beschrieben werden:

Er stellte sich vor – und zum erstenmal wurde ihm in diesem Saale wohl –, wie er am Morgen – früher dürfte er kaum zu Fuß nach Hause kommen – den Onkel überraschen wollte.1

Durch die beiden Einschübe "und zum erstenmal wurde ihm in diesem Saale wohl"1 und "früher dürfte er kaum zu Fuß nach Hause kommen"1 kennzeichnet der Erzähler, was aktuell in den Gedanken des Protagonisten vor sich geht und verweist gleichzeitig auf dessen Wohlbefinden.

Ein solcher Satzeinschub wird auch Parenthese genannt. Dieses rhetorische Stilmittel dient unter anderem dem Informationsgewinn, da die Lesenden durch die verschiedenen Informationen innerhalb eines Satzes einiges über den jeweiligen Sachverhalt erfahren.

Als Parenthese wird das rhetorische Stilmittel bezeichnet, das einen Satz durch einen Einschub unterbricht. Dieser Einschub ist dabei grammatikalisch unabhängig vom übergeordneten Satz und enthält meist nur ergänzende Informationen, die auch ausgelassen werden können. Sieh Dir doch die Erklärung "Parenthese" auf StudySmarter an, wenn Du mehr über dieses Stilmittel erfahren möchtest!

"Der Verschollene" – Interpretation

Franz Kafka wirft mit seinem Roman "Der Verschollene" mehrere Möglichkeiten der Interpretation auf. Im Wesentlichen geht es in "Der Verschollene" um Amerika und die Vorstellung, die Kafka mit diesem Kontinent verbindet. Des Weiteren handelt der Roman von unergründlichen Hierarchien und im Dunkel liegenden Machtverhältnissen.

Amerika als Symbol der Moderne

Aus Kafkas Biografie geht hervor, dass der Schriftsteller zeitlebens eine Faszination für das weit entfernte Amerika hegte, obwohl er dort nie gewesen war. Es ist das Bild von Amerika als Symbol der Moderne, das der Schriftsteller in seinen Roman "Der Verschollene" verwoben hat.

Im 19. Jahrhundert galt Amerika als Symbol der Moderne. In den Wissenschaften führten neue Erkenntnisse zu rasanten technischen Entwicklungen. Die Entwicklung der Industrie war insbesondere in Amerika rapide, sodass sich die Menschen mit neuen Bereichen der Arbeit auseinanderzusetzen hatten. Gleichzeitig übte Amerika auf die in Europa ansässigen Menschen einen großen Reiz aus, da aufgrund der Industrialisierung im 18. Jahrhundert Armut Realität für jene geworden war. Es war ein Lebensgefühl, das Amerika versprach: Freiheit, Erfinderreichtum und Abenteuer. In diesem Sinne war auch die Einwanderungsrate hoch.

Mit der Modernisierung und Amerika als Symbol der Moderne setzte sich Kafka in "Der Verschollene" auseinander.

Kafka zeigt auf, dass die zunehmende Technisierung nicht nur Vorteile für den Menschen, sondern ebenfalls Nachteile bereithält. Dies wird deutlich in der Szene, in der Karl gemeinsam mit seinem Onkel dessen Geschäft besucht.

Dort stellt der junge Mann fest, dass er so ein Geschäft noch nie zuvor in Europa gesehen hat. Karl beschreibt den Saal der Telegrafen und verweist dabei auf die Reizüberflutung, die dieser Ort bereithält:

Im Saal der Telefone gingen, wohin man schaute, die Türen der Telefonzellen auf und zu, und das Läuten war sinnverwirrend.1

Durch das Adjektiv "sinnverwirrend" weist der Erzähler darauf hin, wie die Geschehnisse, die sich in diesem Raum ereignen, von den Figuren wahrgenommen werden. Das Bild eines Ortes, in dem unentwegt Reize auf die Menschen einprasseln, entsteht.

Ferner weist der Erzähler auf die Anonymisierung und Entmenschlichung der Arbeitenden hin:

Der rechte Arm lag auf einem Tischchen, als wäre er besonders schwer, und nur die Finger, welche den Bleistift hielten, zuckten unmenschlich gleichmäßig und rasch.1

Die sachliche Erzählweise deckt sich mit dem Inhalt der Szene: Statt Menschen zu beschreiben, werden die Menschen zu Maschinen funktionalisiert. Dies hat zur Folge, dass sie "gleichgütig"1 werden:

Der Onkel öffnete die nächste dieser Türen, und man sah dort im sprühenden elektrischen Licht einen Angestellten, gleichgültig gegen jedes Geräusch der Türe, den Kopf eingespannt in ein Stahlband, das ihm die Hörmuscheln an die Ohren drückte.1

Mit jener Gleichgültigkeit der Menschen geht deren Verzicht auf Kommunikation einher. Die Arbeitenden laufen uninteressiert aneinander vorbei. Einzig die Arbeit steht im Fokus ihrer Beschäftigung:

Keiner grüßte, das Grüßen war abgeschafft, jeder schloß sich den Schritten des ihm Vorhergehenden an und sah auf den Boden, auf dem er möglichst rasch vorwärtskommen wollte1.

Dass darüber hinaus das Geschäft von unermesslicher Größe ist, und viele Tage für die "Durchsicht"1 aufgewendet werden müssten, bestätigt die Anonymität der einzelnen Personen und deren kommunikationsarmes Verhalten.

Im Dunkeln liegende Machtverhältnisse

Zentral für Kafkas Werke sind die unergründlichen Hierarchien und die im Dunkel liegenden Machtverhältnisse, die der Schriftsteller in seine Handlungen verwoben und seine Figuren erfahren lassen hat.

In "Der Verschollene" ist Karl Roßmann die Hauptfigur, der ein schwieriges Schicksal, nämlich die Verbannung nach Amerika, zuteilwird. Dennoch scheint Karl dies mit Gelassenheit zu ertragen, denn er bekennt sich zu keinem Zeitpunkt auf emotionale Weise zu seinem Schicksal.

Im Verlauf der Erzählung werden die Lesenden darüber informiert, dass dem Protagonisten eine Opferrolle zugeschrieben wird. Denn nach seinem anfänglichen Glück, bei seinem Onkel aufgenommen zu werden, erfährt er nach und nach eine Pechsträhne: Ohne erkennbaren Grund entzieht ihm sein Onkel seine Obhut. Unmittelbar darauf trifft er auf die beiden Landstreicher Robinson und Delamarche, die ihm entgegen seiner anfänglichen Erwartung nicht wohl gesinnt sind. Nachdem er sich von den beiden trennt, erhält er eine Anstellung als Liftboy, die er daraufhin wieder verliert. Schließlich wird Karl gegen seinen Willen gezwungen, den beiden Landstreichern und der Sängerin Brunhilde zu dienen.

Dabei werden die Lesenden zu keinem Zeitpunkt der Lektüre darüber informiert, welche speziellen Machtverhältnisse den Geschehnissen zugrunde liegen. Jeglicher Verteidigungsversuch von Karl scheitert, wie aus der Szene seiner ungerechten Entlassung im Hotel Occidental hervorgeht.

Dass der Protagonist im Anschluss gegen seinen Willen als Diener der beiden Landstreicher und Brunhilde arbeitet, zeigt, dass er sein Schicksal für bezwungen hält, und die unbekannten Machtverhältnisse nicht weiter hinterfragt.

Damit steht die Opferrolle des Protagonisten in direkter Verbindung mit den im Dunkel liegenden Machtverhältnissen in "Der Verschollene".

"Der Verschollene" – Epoche

Die Epoche des Expressionismus, in der Kafka sein Werk "Der Verschollene" verfasste, war von zahlreichen Umbrüchen geprägt. Durch die Industrialisierung kam es auch zu einer Entindividualisierung des Menschen. Viele Arbeiterinnen und Arbeiter mussten eintönigen und körperlich anstrengenden Tätigkeiten in Fabriken nachgehen, die nur wenig Geld einbrachten. Das Leben in der Großstadt brachte auch eine neue Anonymität mit sich, die viele Menschen orientierungslos zurückließ, da sich das Leben in der Stadt stark von ihrer vorherigen Lebensweise unterschied.

Die Vertretenden des Expressionismus standen diesen Entwicklungen kritisch gegenüber und stellten die Stadt häufig als monströs oder böse dar. Einige schätzten zwar die kulturelle Freiheit in Städten wie Berlin, allerdings wurde dies überlagert von der Kritik an der Verdinglichung des Menschen.

Als Verdinglichung des Menschen wird die Tendenz begriffen, Menschen zu Gebrauchs- und Tauschobjekten zu machen. Damit werden den Menschen individuelle Eigenschaften abgeschrieben, um diese für kapitalistische oder anderweitige Zwecke umzufunktionieren. Ein Beispiel hierfür ist der Mensch als Arbeitskraft in einem Großunternehmen (z.B. Fließbandarbeit).

Obwohl Kafkas Werk "Der Verschollene" zeitlich der literarischen Epoche des Expressionismus zuzuordnen ist, lässt sich der Roman nicht mit dieser identifizieren. Denn der sachliche Stil, der für Kafka typisch ist, passt nicht in die Epoche des Expressionismus. Daher nimmt der Autor eine Sonderstellung in der Literaturgeschichte ein.

Der Autor Franz Kafka

Franz Kafka wurde im Jahr 1883 in Prag geboren und starb im Jahr 1924 in Wien. Als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie studierte er Germanistik und Jura. Kafka gilt als einer der erfolgreichsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Zu seiner literarischen Schöpfung zählen Romane, Erzählungen, Parabeln, Gedichte und Zeichnungen.

Obwohl Kafkas Werke zum Kanon der Weltliteratur gezählt werden, erschien ein Großteil seiner Werke postum.

Einschlägig für Kafkas Schaffen ist die Einzigartigkeit seiner Werke: Sie weisen allesamt einen grotesken Stil auf und werden im bildungssprachlichen Bereich sogar durch das im Duden aufgeführte Adjektiv "kafkaesk" charakterisiert.

Das Adjektiv "grotesk" bezieht sich auf einen Sachverhalt, der durch Übersteigerung absonderlich, komisch, verzerrt oder sogar lächerlich wirkt. Das Adjektiv "kafkaesk" bezieht sich auf die rätselhafte Weise, für die Kafkas Werke mitunter bekannt sind. Kafkaesk meint so viel wie "in der Art der Schilderungen Kafkas, auf unergründliche Weise bedrohlich"2.

Neben Existenzängsten thematisiert Kafka den Kampf des Individuums gegen verborgene und geheimnisvolle, anonyme Mächte. Dieser Kampf mündet häufig in einer Ausweglosigkeit und erinnert an den Gang durch ein Labyrinth.

Kafkas literarische Werke sind auch Zeugnis seiner Arbeit als Versicherungsangestellter, da das Ankämpfen des Individuums gegen die Fänge der Bürokratie ein Thema war, das den Autor zeitlebens begleitete. Dieses Thema ist auch in einem seiner bekanntesten Werke, "Der Prozess" (1925), verwoben.

Ein weiteres bekanntes Romanfragment Kafkas ist "Das Schloss" (1926). Bekannte Erzählungen des Autors sind "Die Verwandlung" (1915) oder "Das Urteil" (1913).

Der Verschollene - Das Wichtigste

  • Franz Kafka verfasste den Roman bzw. das Romanfragment "Der Verschollene" bereits zwischen 1911 und 1914, publiziert wurde es jedoch erst postum im Jahre 1927 von Max Brod, einem engen Freund Kafkas.

  • Das Werk "Der Verschollene" wurde in früheren Ausgaben unter dem Titel "Amerika" veröffentlicht.

  • "Amerika" deckt sich mit dem thematischen Schwerpunkt des Romans, denn es geht um den aus Prag stammenden Karl Roßmann, der von seinen Eltern in das weit entfernt liegende Amerika verbannt wird.

  • Die Geschehnisse in "Der Verschollene" werden von einem personalen Erzähler wiedergegeben.

  • Der Sprachstil in "Das Schloss" gleicht einer sachlichen Beobachtung. Dies ist ein typisches Merkmal von Kafkas Schreibstil, dessen Beschreibungen häufig an juristische Texte erinnern.

  • Im Wesentlichen geht es in "Der Verschollene" um Amerika und die Vorstellung, die Kafka mit diesem Kontinent verbindet und auf diese Weise auf seine Figuren überträgt.

  • Des Weiteren handelt der Roman von unergründlichen Hierarchien und im Dunkel liegenden Machtverhältnissen.

  • Einschlägig für Kafkas Schaffen ist die Einzigartigkeit seiner Werke: Sie weisen allesamt einen grotesken Stil auf und werden im bildungssprachlichen Bereich sogar durch das im Duden aufgeführte Adjektiv "kafkaesk" bezeichnet.


Nachweise

  1. Franz Kafka (2010): Franz Kafka. Das Werk. Sämtliche Romane, Erzählungen und die erzählende Prosa in der Edition von Max Brod. Zweitausendeins.
  2. www.pangloss.de: Franz Kafka: Der Verschollene. (29.07.2022)
  3. www.xlibris.de: Interpretation "Amerika" von Franz Kafka. (01.08.2022)

Häufig gestellte Fragen zum Thema Der Verschollene

"Der Verschollene" wurde von Franz Kafka verfasst.

Der Roman spielt zu seiner Entstehungszeit, also zwischen 1911 und 1914. 

Der Roman handelt von dem aus Prag stammendem Karl Roßmann, der von seinen Eltern in das weit entfernt liegende Amerika verbannt wird. Dort führt der junge Mann ein ärmliches Leben und sieht sich mit einem schweren Schicksal konfrontiert. 

Karl schöpft Hoffnung auf eine bessere Zukunft und bewirbt sich in Clayton als Mitarbeiter des Theaters. Angestellt wird er schließlich als technischer Arbeiter. In Clayton gibt es dann ein Festessen, bei dem den neuen Mitarbeitenden Bilder des Naturtheaters gezeigt werden. Daraufhin treten sie die Reise durch Amerika nach Oklahoma an. In dieser Episode wird dem jungen Mann bewusst, wie groß Amerika tatsächlich ist. An dieser Stelle endet das Romanfragment.

Teste dein Wissen mit Multiple-Choice-Karteikarten

Welcher Textart kann das Werk "Der Verschollene" zugeordnet werden?

Wer verfasste das Romanfragment "Der Verschollene"?

Weshalb wird Karl Roßmann von seinen Eltern nach Amerika verbannt?

Weiter
Mehr zum Thema Der Verschollene

Schließ dich über 22 Millionen Schülern und Studierenden an und lerne mit unserer StudySmarter App!

Die erste Lern-App, die wirklich alles bietet, was du brauchst, um deine Prüfungen an einem Ort zu meistern.

  • Karteikarten & Quizze
  • KI-Lernassistent
  • Lernplaner
  • Probeklausuren
  • Intelligente Notizen
Schließ dich über 22 Millionen Schülern und Studierenden an und lerne mit unserer StudySmarter App! Schließ dich über 22 Millionen Schülern und Studierenden an und lerne mit unserer StudySmarter App!

Melde dich an für Notizen & Bearbeitung. 100% for free.

Entdecke Lernmaterial in der StudySmarter-App

Google Popup

Schließ dich über 22 Millionen Schülern und Studierenden an und lerne mit unserer StudySmarter App!

Schließ dich über 22 Millionen Schülern und Studierenden an und lerne mit unserer StudySmarter App!

Die erste Lern-App, die wirklich alles bietet, was du brauchst, um deine Prüfungen an einem Ort zu meistern.

  • Karteikarten & Quizze
  • KI-Lernassistent
  • Lernplaner
  • Probeklausuren
  • Intelligente Notizen
Schließ dich über 22 Millionen Schülern und Studierenden an und lerne mit unserer StudySmarter App!